Titel
Die Mauern von Troia. Mythos und Geschichte im antiken Ilion


Autor(en)
Hertel, Dieter
Erschienen
München 2003: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
402 S., 42 Tafeln
Preis
€ 98,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Markus Sehlmeyer, Institut für Altertumswissenschaften, Universität Rostock

Schon seit 2001 hält die Troja-Kontroverse zwischen dem Prähistoriker Manfred Korfmann und dem Althistoriker Frank Kolb an. Die Höhepunkte waren der Sommer 2001 mit der breiten Darstellung der Thematik selbst in der Lokalpresse 1 und der Februar 2002 mit dem Kolloquium "Die Bedeutung Troias in der späten Bronzezeit", das der Aussprache dienen sollte, aber letztendlich nur verhärtete Fronten hinterließ.2 Neben den Disput Korfmann-Kolb hatten sich andere gesellt, beispielsweise zwischen den Gräzisten Joachim Latacz und Wolfgang Kullmann oder zwischen Frank Starke und zahlreichen anderen Hethitologen. Dieter Hertel spielte in den Auseinandersetzungen von Anfang an eine wichtige Rolle, da er bereits 1993 eine Habilitationsschrift zu diesem Themenkreis eingereicht hatte 3 und als Privatdozent der Klassischen Archäologie den vielfältigen Problemen weiter treu blieb. Im Februar 2001 brachte er ein Taschenbuch zum Abschluss, das auch einen weiteren Leserkreis mit seiner Sicht von Archäologie, Geschichte und Mythos Trojas bekannt machte.4 Bereits auf dem Tübinger Kolloquium vom Februar 2002 erwartete man mit Spannung das Erscheinen von Hertels umfangreicherer Schrift, zumal er derjenige Archäologie war, der dem Althistoriker Kolb am entschiedensten beigesprungen war. Einwände gegen Korfmann hatten u.a. Justus Cobet, Peter Funke, Hans-Joachim Gehrke, Karl-Joachim Hölkeskamp und Wolfgang Schuller erhoben.5 Auch auf dem Historikertag in Halle war das Thema Gegenstand einer Podiumsdiskussion.6

Hertels Buch legt im ersten Teil (S. 24-184) umfangreiches archäologisches Material vor. Die Aufarbeitung der Befunde Dörpfelds (1893/94) kann die jüngsten Grabungen von Korfmann durchaus supplementieren, da viele der Reste, die Dörpfeld freigelegt hatte, nicht mehr sichtbar sind oder abgetragen wurden. Somit haben wir in Hertels Buch zunächst einen eher wissenschaftshistorischen Ansatz vor uns, der aber noch unmittelbar in die gegenwärtige Diskussion hineinwirkt. Dörpfeld hat zahlreiche Grabungstagebücher und Fotografien hinterlassen, die noch nie publiziert wurden. Die Burgmauer, das Athena-Heiligtum, das westliche Hieron, Agora, Theater, Siedlungsgebiet und Quellhöhlensystem werden von Hertel detailliert erörtert, wobei Dörpfeld und Blegen mit Korfmanns Grabungen verglichen werden. In vielen grundsätzlichen Fragen weicht Hertel von Korfmann ab, z.B. in der Abgrenzung von Troja VI und VII. Hertel ist der Auffassung, dass bereits ab ca. 1020 v.Chr. die griechische Besiedlung einsetzt, die er mit dem Beginn von Troja VII gleichsetzen möchte, während Korfmann diese Zeit als Troja VI b 3 bezeichnet.7 Auch die neuere Publikation und Auswertung der Grabungsberichte Schliemanns 8 wird von Hertel kritisch hinterfragt. So stellt er in Zweifel, dass man in archaischer Zeit einen Athena-Tempel nachweisen könne. Zu begrüßen ist auch die Auflistung der nur literarisch bezeugten Bauten und Denkmäler (S. 154-185).

Der zweite Teil des Buches (S. 186-309) ist für den geschichtlich Interessierten von größerer Bedeutung, da hier der ganz neue Versuch unternommen wird, die Genese der Mythen vom trojanischen Krieg anhand der Denkmäler zu erklären. Somit wird hier eine Untersuchung von Geschichtsbewusstsein anhand der lieux des mémoires vorgenommen. Hertel beschäftigt sich zunächst mit der vorhomerischen Zeit. Die schon ältere Burgmauer und der Herakles-Wall seien bereits präsent gewesen, als sich Griechen in Ilion niederließen. Mit der Zeit sei die friedliche Landnahme der Griechen in Vergessenheit geraten und man wusste nicht mehr zu erklären, wie die Griechen die gewaltigen Mauern überwunden hätten. So sei die Sage von der Belagerung der Burg mit der als uneinnehmbar geltenden Mauer entstanden - die Basis für den Sagenkreis des trojanischen Krieges. In homerischer Zeit kamen die Gräber der großen Helden hinzu, wie z.B. Achill oder Patroklos - Hügel in der Nähe der Stadt, also in der Landschaft Troas. Hertel reflektiert, was Homer gesehen haben mag, als er seine Epen schrieb. Somit ist Hertels Buch auch ein Beitrag zur Homerforschung. Er deutet die Betonung der Heldengräber als Ergebnisse eines problematisierten Heldenbildes (S. 208f.).

Die Geschichte Ilions wird dann vom frühen 7. Jahrhundert bis 334 v.Chr. nachgezeichnet (S. 218-229). Zunächst war die Polis unabhängig, später geriet sie unter persische Herrschaft, wurde aber immer wieder von Griechen befreit. Im Jahre 480 hat Xerxes das Denkmal Troja bei einem Besuch dazu genutzt, den Angriff auf Griechenland zu legitimieren. Man machte sich in dieser Zeit auch Gedanken darüber, wo sich das Schiffslager der Griechen im trojanischen Krieg befunden habe. Hertel spricht sich mit Brückner und Dörpfeld für eine Lokalisierung an der Westküste aus, wo auch die Gräber von Achill und Patroklos gezeigt wurden.9 Mit Alexanders Rachefeldzug wurde Ilion 334 ins makedonische Reich integriert. Sein Besuch habe vier Motive gehabt: 1. die Anknüpfung an die Heldentaten von Protesilaos und Achill; 2. die Frömmigkeit Alexanders, die sich in den verschiedenen Opfern manifestierte; 3. die Akzeptanz seiner Herrschaft in der Troas, da sein Speerwurf als Symbol der Eroberung von den Einwohnern akzeptiert wurde; 4. die Erneuerung der städtischen Freiheit, die der Euerget Alexander garantierte. Bezeichnend ist, dass die Statue des persischen Satrapen kurz vor Ankunft Alexanders offenbar zerstört worden war.10 In frühhellenistischer Zeit stand die Stadt dem ilischen Städtebund vor, geriet dann aber unter seleukidische Herrschaft.

Im Folgenden zeichnet Hertel die Geschichte bis in die Kaiserzeit nach (Troia IX, S. 237-301). Die Bedeutung der religiösen Stätten und der Denkmäler wird über den ganzen Hellenismus weiterverfolgt; das Jahr 188 v.Chr. brachte Ilion dann die städtische Autonomie zurück, aber unter der Oberhoheit Pergamons. Augustus griff den Gedanken der gemeinsamen mythischen Abstammung der Ilienser und der Römer verstärkt auf - Troja spielte ja in der augusteischen Geschichtsdeutung eine herausragende Rolle.11 Die Stadt wurde sehr weitgehend modernisiert (S. 276f.). Neu hinzugekommene Denkmäler und Erinnerungsmale werden anhand der literarischen und epigraphischen 12 Überlieferung in ihrer Symbolik erläutert. In der Spätantike ist die Statuenehrung für Kaiser Julian von Wichtigkeit, die antipagane Gesetzgebung des Theodosius wird aber m.E. eher als eine Norm anzusehen sein, der man in der Praxis nicht unbedingt sofort gefolgt sein muss.

Hertels Buch bietet vor allem im zweiten Teil vielfach neue und ungewohnte Sichtweisen. Teilweise vergleichbar ist Andrew Erskines im Jahre 2001 erschienenes Buch,13 das aber keine Vorlage archäologischen Materials bietet, sondern vielmehr die Troja-Rezeption in der Antike in den Blick nimmt. Die archäologischen Überreste treten in den Hintergrund, vielmehr geht es Erskine um den Troja-Mythos in Latium, seine Bedeutung in den Perserkriegen oder in der griechisch-römischen Diplomatie. Hertel behandelt hingegen Troja vor allem in solchen historischen Momenten, in denen es von Einheimischen oder Ausländern aufgesucht wird, um den trojanischen Krieg in Erinnerung zu rufen. So lässt sich resümieren, dass Hertel ein wichtiges Buch vorgelegt hat, das Archäologie und Althistorie gleichermaßen interessieren sollte.

Anmerkungen:
1 Die Artikel in FAZ, SZ, Die Welt bis hin zum Schwäbischen Tagblatt waren motiviert durch die Troja-Ausstellung in Braunschweig und Bonn, die von Korfmann maßgeblich gestaltet worden war und auch einer ersten Präsentation seiner Grabungsfunde dienen sollte.
2 Vgl. den Tagungsbericht in H-Soz-u-Kult: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=9. Die Vorträge sind teilweise im Internet zugänglich - auf den konkurrierenden Websites von Korfmann (http://www.uni-tuebingen.de/troia/deu/) und Kolb (http://www.uni-tuebingen.de/uni/g10/ag/ag_aktuell.htm). Die Vorträge der Kolb-Anhänger werden in erweiterter Form im Herbst 2003 im Druck erscheinen: Ulf, Christoph (Hg.), Der neue Streit um Troja. Eine Bilanz, München 2003.
3 Eine Stadt als Zeugnis ihrer Geschichte. Troia/Ilion in griechischer und hellenistisch-römischer Zeit, Philosophische Fakultät der Universität zu Köln.
4 Troia. Archäologie, Geschichte, Mythos, München 2001.
5 So u.a. in Briefen an das Feuilleton der FAZ (http://www.uni-tuebingen.de/uni/g10/ag/ag_aktuell.htm), aber z.B. auch in dem Beitrag von Cobet, J.; Gehrke, H. J., Warum immer um Troia streiten?, GWU 53, Heft 5/6 (2002), S. 290-325.
6 Vgl. http://www.historikertag2002.uni-halle.de/programm/7_01.shtml.
7 S. 186f., Anm. 1, kündigt Hertel ein ergänzendes Buch zu diesem Thema an.
8 Vgl. Easton, Donald, Schliemann's excavations at Troia 1870-1873, Mainz 2002.
9 Korfmann lokalisiert das Schiffslager hingegen an der Nordküste.
10 Zum Denkmalsturz vgl. Speitkamp, W. (Hg.), Denkmalsturz. Zur Konfliktgeschichte politischer Symbolik, Göttingen 1997, und anhand von Beispielen der späten Republik Sehlmeyer, M., Stadtrömische Ehrenstatuen der republikanischen Zeit, Stuttgart 1999, S. 196f. (Marius), 214 (Verres), 231 (Sulla und Pompeius), 281.
11 Neben Vergils Aeneis und dem Programm des Augustus-Forum sollte das Wirken der Antiquare nicht vergessen werden; ein Zeugnis liegt uns in der spätantiken Origo Gentis Romanae vor, die auf augusteische Quellen, vermutlich Verrius Flaccus, zurückgeht.
12 Etwas unpraktisch empfand der Rezensent die Zitierung von Inschriften nach deren Herausgebern anstatt der üblichen Reihenangabe (HGIÜ, IK Ilion).
13 Troy Between Greece and Rome. Local Tradition and Imperial Power, Oxford 2001. Eine kartonierte Ausgabe ist für Herbst 2003 angekündigt.

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